Hallo,
vermisst ihr mich schon? Nun bin ich schon 2 Wochen weit weg. Allein wohnen, spülen, einkaufen, leben, wobei, nicht ganz alleine. Ich habe reizende Mitbewohnerinnen. Die versuchen mit mir, das Erwachsensein hinzukriegen.
Wir wohnen im achten Stock eines Wohnhauses in Tel Aviv. Es ist wie ein Berlin in Tel Aviv wie mir von einem jungen Israeli, an der Ampel erzählt wurde. Er ist Jecke, so nennt man hier deutschstämmige Israelis. Er hat die Ampelkonversation meiner Mitbewohnerin und mir verstanden und in einer Gesprächspause sagte er: “In dieser Ecke von Tel Aviv habe ich noch nie Deutsch gehört.” „Diese Ecke” von Tel Aviv ist nämlich der Anfang eines ärmeren, arabischeren Viertels von Tel Aviv, ganz anders als das Tel Aviv an der Strandpromenade.
Anhand der großen Baustellen an den hiesigen Hauptstraßen, den vereinzelten neuen Fahrradwegen und der neuen Straßenbahn lässt sich allerdings erahnen, was die Gentrifizierung hier bringen wird.
Im achten Stock ist für junge Menschen wie uns eine Wohnung gemietet worden, die allerletzte, ganz oben. Und das bereits vor 60 Jahren. So lange leben hier schon 18 – jährige gemeinsam mit Kakerlaken und Bettwanzen. Die Leute, die mein Zimmer das erste Mal bewohnt haben, sind inzwischen in Rente. Ich fühle mich beim nächtlichen Spaziergang zum Kühlschrank wie Ebenezer Scrooge, die Geister der vergangenen Freiwilligendienste knallen hier mit den Türen, manchmal pfeift der Wind durch die halb offenen Fenster.
Die Wahrheit ist, ich hab diesen ersten Teil dieser Zeilen am Morgen des 7. 10. geschrieben und wurde unterbrochen vom zweiten Raketenalarm. So naiv, wie es vielleicht klingt, war es auch: Nach der ersten Rakete dachte ich, dass ich jetzt wieder schlafen gehen könne, vorher schreibe ich noch schnell an Euch. Seitdem hat sich viel verändert. Ich schreibe Euch jetzt aus dem Treppenhaus, es ist 12:10 am 9.10., Das Tel Aviv Center wird beschossen. „Ich hab echt keinen Bock mehr, ey.“ , sagt eine meiner Mitbewohnerinnen. Nach zwei Tagen Krieg ist man auf die Weise abgestumpft, dass man Angriffe mit einem genervten Stöhnen oder dem Ausrufen der attackierten Städte kommentiert. „Holon, Rishon Le zion east, jetzt auch west.“ Meine andere Mitbewohnerin hat sich angewöhnt, bei jedem lauten Knall, also alle paar Minuten, das Wort „Käsekuchen“ zu rufen, um sich selbst vom Fluchen abzuhalten und weil wir alle Lust auf Kuchenessen haben, naja.
Gestern hat das Mädchen aus dem Treppenhaus, wir haben sie bei einem der Alarme kennengelernt, ihrem Bruder tschüss gesagt, der jetzt nach kämpfen geht. Ein Bekannter, der evakuiert wurde, vermisst seinen Freund, ob er tot ist, trauen wir uns nicht zu fragen. Das Leben hier ist von solchen Nachrichten bestimmt. Der Krieg ist so viel näher als es eigentlich auszuhalten ist. Er hat jetzt einen Namen: „Iron swards/Iron war“.
Von dem Tel Aviv von vor drei Tagen ist nicht mehr viel übrig. Die Stadt ist leer, weil die Reservisten weg und wir in den Treppenhäusern und Bunkern sind. Hoffentlich dauert es nicht allzu lang an, sagen alle, unwissend, was morgen oder in fünf Minuten passiert. Nach den Schreckensnachrichten kochen und tanzen wir, essen zusammen, hören melancholische deutsche Musik, was man eben sonst auch so macht.
Die Erfahrung hier zu sein ist nicht vergleichbar mit etwas Anderem. Die Pluralität des Konfliktes, des Lebens, der emotionalen Lage hier ist nicht zu beschreiben.
Trotzdem hoffe ich, dass Ihr Euch durch diese Zeilen mir und dem Land ein bisschen näher fühlt. Wenn man eins hier gelernt hat, dann ist es, dass Distanz kein Maßstab ist. Was in so weiter Entfernung von zu Hause hierher zu uns hier passiert, fühlt sich genauso nah an wie das Leben zu Hause, Pluralität und so.
Anyways, lasst es euch gut gehen, haltet die Ohren steif, schreibt mir gerne, wenn Ihr Anmerkungen oder Fragen habt.
In Liebe
Eure ....
P.S. Die junge Deutsche, Enkelin eines unserer Mitglieder, hat uns gestattet, ihre Zeilen zu veröffentlichen.