Was wäre, wenn man die soziale Pflegeversicherung zu einer Vollversicherung in Form einer Bürgerversicherung umbaute? Mit dieser Frage beschäftigte sich Prof. Dr. Heinz Rothgang von der Universität Bremen. In einem Gutachten untersuchte er die Auswirkungen einer derart grundlegenden Reform und kam zu dem Ergebnis, dass es wohl um einiges gerechter zuginge. Denn deutlich mehr bezahlen müssten trotz der Übernahme aller pflegebedingten Kosten nur die oberen zehn Prozent der Einkommenspyramide.
Alles wird teurer. Diese Feststellung ist ebenso banal wie zutreffend. Menschen, die pflegebedürftig sind, und auch deren Angehörige trifft diese Wahrheit jedoch besonders hart. Denn Pflege geht in Deutschland längst mit einem wachsenden Armutsrisiko einher. Während der von den Betroffenen zu zahlende Eigenanteil seit Jahren steigt, gerät auch die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung selbst in eine immer größere Schieflage. Die Parteien streiten derweil über das Ausmaß der Krise und schieben die Verantwortung dafür dem politischen Gegner zu. Das zuständige Ministerium erklärt, man habe den Ernst der Lage erkannt. Jetzt brauche es tiefgreifende und nachhaltige Reformen. Ein Konzept hierfür lässt allerdings auf sich warten. Zum Ende der Legislatur dann fällt das weiterhin ungelöste Problem der nächsten Bundesregierung als ungeliebtes Erbe zu. Der Streit und die Schuldzuweisungen beginnen von Neuem. Warum ist das so?
Es gibt leider keine für alle Seiten attraktive Lösung, sagt Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen. Deshalb ducke sich die Politik weg. Der Wissenschaftler beschäftigt sich bereits seit den 1990er-Jahren mit der damals gerade neu eingeführten Pflegeversicherung. Diese, so Rothgang, habe mittlerweile ein doppeltes Finanzproblem: Einerseits liefen ihr die Kosten davon, was auf Seite der Versicherten zu immer höheren Beitragssätzen führe; andererseits könnten Pflegebedürftige die ungebremst steigenden Eigenanteile kaum noch bewältigen. Es fehle schlicht und ergreifend an Geld.
Bund hält Finanzierungszusagen nicht ein
Dieses müsste aus Sicht des SoVD vom Bund kommen. Denn der, kritisiert die Vorstandsvorsitzende Michaela Engelmeier, habe während der Corona-Pandemie Beitragsmittel der Pflegekassen zweckentfremdet. Die Rede ist von rund sechs Milliarden Euro. Mit dem Geld der Versicherten finanzierte die Bundesregierung damals Tests in Pflegeeinrichtungen und Bonuszahlungen an Pflegekräfte. Eine Rückzahlung oder auch die eigentlich notwendige Bereitstellung zusätzlicher Steuermittel hatte die zuletzt regierende Ampel-Koalition jedoch stets mit Verweis auf die Einhaltung der Schuldenbremse abgelehnt.
Doch damit nicht genug. Zur Sanierung des Haushaltes strich die Bundesregierung ab 2024 den bisherigen Bundeszuschuss zur sozialen Pflegeversicherung in Höhe von einer Milliarde Euro. Stattdessen erhöhte sie ein ums andere Mal die Beitragssätze. Doch mit Blick auf die ohnehin schon hohe Abgabenlast scheint auch hier nun das Ende der Fahnenstange erreicht.
Pflegeversicherung in der Sackgasse?
Natürlich gäbe es durchaus noch andere Wege zur Beschaffung oder Umverteilung von Geld. Denkbar wären ein Finanzausgleich mit Mitteln der privaten Pflegeversicherung, eine Erhöhung der Beitragsbemessungsgrenze oder auch die Einbeziehung anderer Einkommensarten. Mit diesen Maßnahmen würde man allerdings vor allem einkommensstarke Gruppen ins Visier nehmen und somit auf den Widerstand sehr gut organisierter Interessengruppen stoßen. Steckt die soziale Pflegeversicherung also in einer Sackgasse fest?
Nein, sagt Professor Heinz Rothgang. Im Auftrag des Bündnisses für eine solidarische Pflegevollversicherung, dem auch der SoVD angehört, erstellte er kürzlich ein Gutachten, in dem er Auswege aus der Misere aufzeigt. Rothgang untersuchte, welche Effekte eine Vollversicherung hätte, die für alle pflegebedingten Kosten aufkommt. In Kombination mit einer Bürgerversicherung ließe sich die zu schulternde Last dabei auf die gesamte Bevölkerung verteilen. Vor allem aber wäre damit die für knapp sechs Millionen Menschen größte Sorge vom Tisch. Denn mit einer solchen Pflegebürgervollversicherung hätte sich das Thema „hohe Eigenanteile“ erledigt.
Leistungen wurden nicht angepasst
Überzeugt von dieser Idee zeigt sich daher auch Michaela Engelmeier. Sie warnte zuletzt eindringlich vor Pflege-Eigenanteilen, die bereits jetzt mehr als doppelt so hoch seien wie eine durchschnittliche Rente. Engelmeier zeigte sich zudem besorgt, dass Pflegebedürftige allein aus Kostengründen auf eigentlich benötigte Leistungen verzichten könnten. Anders als die SoVD-Vorständin will Rothgang dennoch nicht von einem Konstruktionsfehler der sozialen Pflegeversicherung sprechen. Denn bei deren Einführung, erinnert der Wissenschaftler, bestand die Teilleistung der allermeisten Pflegebedürftigen allein in der Übernahme der Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Die pflegebedingten Kosten selbst gingen damals bei fast allen Pflegebedürftigen noch komplett zulasten der Pflegekasse, während die Investitionskosten von Beginn an eigentlich die Länder übernehmen sollten. Weil diese Aufgabenverteilung jedoch nicht als gesetzliche Verpflichtung formuliert wurde, gelang es den Bundesländern, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Erfolgreich wälzten sie die eigentlich in ihrer Verantwortung liegenden Ausgaben für Investitionen oder Instandhaltungen von Einrichtungen auf die Pflegebedürftigen ab.
Geplant war das ursprünglich ganz anders. Schließlich verfolgte die Schaffung der sozialen Pflegeversicherung eine klare Absicht: Man wollte Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet hatten und im Alter auf Pflege angewiesen waren, den Gang zum Sozialamt ersparen. Was anfänglich noch gut funktionierte, musste mit der Zeit jedoch unweigerlich an Wirkkraft verlieren – aus einem einleuchtenden Grund. Denn die Leistungen der Pflegeversicherung blieben über lange Zeit hinweg unverändert. Lediglich die Währung der gesetzlich festgeschriebenen Beträge wechselte von „D-Mark“ zu „Euro“. Eine Erhöhung für die damals geltenden Pflegestufen I und II gab es erst im Jahr 2015, also zwanzig Jahre, nachdem das Sozialgesetzbuch (SGB) XI in Kraft getreten war. In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren die pflegebedingten Kosten vor allem durch die bessere Entlohnung von Pflegekräften aber natürlich massiv gestiegen. Die Schere zwischen Versicherungsleistung und Eigenanteil ging unweigerlich immer weiter auseinander.
Reform ist unausweichlich
Für Heinz Rothgang ist der Vorschlag einer Vollversicherung daher eigentlich eine Rückbesinnung auf das, was bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung galt. Er bezeichnet es als bemerkenswert, dass die Pflegevollversicherung inzwischen nicht allein bei Sozialverbänden und Gewerkschaften Anklang findet. Deren Einführung hätten zuletzt sogar namhafte Politiker*innen aus verschiedenen Bundesländern gefordert. Dort, so Rothgangs Erklärung, mache man sich Sorgen, weil die steigenden Eigenanteile Pflegebedürftige zunehmend überforderten. In letzter Konsequenz nämlich kämen die Betroffenen nicht umhin, Leistungen der Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen. Und für diese Kosten müssten dann eben doch die Länder aufkommen.
Egal, von welcher Seite man es betrachtet, an einer grundlegenden Reform der sozialen Pflegeversicherung führt kein Weg vorbei. Heinz Rothgang hält das nicht zuletzt auch aus Gründen der Gerechtigkeit für geboten. Denn verglichen mit den sehr viel einkommensstärkeren privat Versicherten, zahle jede Person in der Sozialversicherung schon heute fast doppelt so viel – bei gleichem Leistungsrecht. Rothgang ist deshalb überzeugt, dass eine Pflegebürgervollversicherung die Umverteilung in die richtige Richtung stärken würde. Das sei dann aber letztlich eine rein machtpolitische Frage.