Den „Sozialstaat krisenfest machen“ – unter diesem Motto stand der Parlamentarische Abend des SoVD, der erstmals seit 2018 wieder stattfand. Über 200 Gäste, darunter Bundestagsabgeordnete, Staatssekretär*innen sowie Vertreter*innen der Landesregierungen, befreundeter Verbände, Organisationen und Institutionen, folgten der Einladung in die Räume der Parlamentarischen Gesellschaft und diskutierten, wie in der aktuellen Lage der soziale Frieden gesichert werden kann.
„Hätte der heutige Abend wie ursprünglich geplant zwei Jahre früher stattgefunden, würden jetzt andere Reden gehalten werden“, stellte die neue Vorstandsvorsitzende des SoVD, Michaela Engelmeier, in ihrer Auftaktrede fest. „Niemandem war damals klar, welche Auswirkungen eine weltweite Pandemie und ein Krieg mitten in Europa auf unsere Gesellschaft und die wirtschaftliche Situation in unserem Land haben würden. Heute muss deshalb unsere Stimme besonders laut sein – denn wir sprechen nun auch für all diejenigen Menschen, die zuvor unsere Stimme noch nicht gebraucht hätten.“
SoVD-Vorstandsvorsitzende mahnt zur Geschlossenheit
Arbeitslose, Minijobber*innen, Alleinerziehende in Teilzeit oder ältere Menschen mit kleiner Rente seien jetzt bereits unmittelbar von Armut betroffen – und dies ohne jeden Spielraum, sich weiter einzuschränken. Steigende Energie- und Lebenshaltungskosten belasteten inzwischen aber auch Menschen, die bisher keine Sozialleistungen gebraucht haben: Arbeitnehmende mit kleinen und mittleren Einkommen, Selbstständige mit kleineren Betrieben oder Familien.
Die zahlreich anwesenden Gäste rief Engelmeier zur Geschlossenheit auf: „Wir müssen jetzt gemeinsam durch ein paar schwierige Jahre kommen. Das geht nur mit Zusammenhalt.“ Solidarität bedeute auch: „Starke Schultern müssen mehr tragen. Spitzenverdiener*innen und Vermögende müssen mehr beitragen – mit der Anhebung des Spitzensteuersatzes, der Reform der Erbschaftsteuer und der Vermögenssteuer.“
Engelmeier: „Der Staat muss Sicherheiten schaffen“
In Richtung Bundesregierung adressierte die SoVD-Vorstandsvorsitzende: „Der Staat muss jetzt handeln und Sicherheiten schaffen!“ Denn viele Menschen hätten Sorge, ihre Heiz- und Mietkosten nicht mehr bezahlen zu können. Sie hätten Angst, dass ihnen am Ende des Monats nicht mehr genug Geld für den Einkauf und die Wohnung kalt bleibt. Das dritte Entlastungspaket enthalte zwar viele richtige Maßnahmen, sagte Engelmeier weiter. Es reiche jedoch auch in Summe nicht aus, um die Mehrkosten langfristig auszugleichen. „Hier wurde zu kurz gesprungen!“
Als gute Maßnahme begrüßte die Vorstandsvorsitzende den Heizkostenzuschuss, der beim Wohngeld sehr helfe – der SoVD fordert seit Langem eine Wohngeldreform.
Michaela Engelmeier fordert Inflationsgeld
Auch die Erhöhungen des Kinderzuschlages und des Kindergeldes seien positiv zu bewerten, wenn auch etwas knapp bemessen. Ebenso sei die Erweiterung des Personenkreises für die Energiepauschale in Höhe von 300 Euro auf Rentner*innen, Studierende und Schüler*innen nachdrücklich vom SoVD gefordert worden und insofern zu begrüßen.
Mit Einschränkung befürwortete Engelmeier darüber hinaus die Strompreisbremse: „Sie ist wichtig für die Basisversorgung. Uns fehlt hier jedoch eine echte Übergewinnsteuer, und die Gaspreisumlage ist Umwelterziehung an der falschen Stelle.“
Die Vorstandsvorsitzende erneuerte unter kräftigem Applaus im Saal die SoVD-Forderung nach einem Inflationsgeld für Geringverdienende, einem „direkten Zuschuss für arbeitende Menschen mit kleinem Einkommen“. Sofort müsse es 100 Euro mehr in der Grundsicherung, bei Hartz IV oder im Alter geben. Wichtig sei dabei: „Die Betroffenen müssen mit an den Tisch! Die Regierung darf nicht nur mit Wirtschaft und Gewerkschaften reden. Deshalb fordern wir wie der VdK, der Mieterbund und die Tafeln einen Sozialgipfel im Kanzleramt.“ Auch das Thema Bürgergeld sprach Engelmeier an. Es sei gut, dass die Grundsicherung endlich reformiert werde, allerdings sehe der SoVD hier ebenfalls Verbesserungsbedarf.
Solidarität als Erfolgsrezept
Prof. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), zeichnete ein Bild der sozialen Schieflage: „40 Prozent der Deutschen haben keine privaten Ersparnisse, keine Vorsorge fürs Alter oder für die Familie. Mehr als die Hälfte aller privaten Vermögen wurden durch Erbschaften oder Schenkungen erhalten – Tendenz stark steigend.“
Anhand empirischer Daten stellte Fratzscher fest, dass der Vertrauensverlust in staatliche Institutionen zunehme, während sich die Zustimmung zur Demokratie abschwäche. Gleichzeitig machte er Mut. „Die nötigen Stärken für die Anpassungsfähigkeit sind bei uns gut verankert: Offenheit und Kooperativität sowie eine Wertschätzung der Wissenschaft. Außerdem braucht es starke Institutionen, Solidarität, eine starke Zivilgesellschaft und dazu resiliente Unternehmen.“
Egal, in welcher Epoche stellten Verbünde, in denen sich Menschen zu gegenseitiger Hilfe zusammenschlössen, das Überleben und die Entwicklung der Gruppe sicher, zeigte sich Fratzscher – entgegen herkömmlichen sozialdarwinistischen Thesen – überzeugt: „Gesellschaften, die hochsolidarisch sind und langfristig denken, bewerkstelligen Krisen jeglicher Art besser.“
Deutschland an der Spitze bei Vermögensungerechtigkeit
Dr. Rolf Schmachtenberg, Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), verwies zunächst auf die vielen Maßnahmenpakete der Bundesregierung. „Wir haben viel auf den Weg gebracht, die Entlastungen werden schnell bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen. Langfristig müssen wir uns aber um ein besseres Gleichgewicht von Löhnen, Einkommen und Vermögen kümmern, hier rudern wir hinterher.“ Er betonte, dass Deutschland – neben Schweden – das europäische Land mit der größten Vermögensungerechtigkeit sei. „Zum Teil kaschieren wir mit dem sozialen Ausgleich diese Ungerechtigkeit. An der Primärverteilung muss als Erstes gearbeitet werden.“
SoVD-Vizepräsidentin Prof. Ursula Engelen-Kefer fasste die Redebeiträge, die von Bundespressesprecher Peter-M. Zernechel angekündigt wurden, zusammen: „Unser Sozialstaat ist wesentlicher Eckpfeiler für die Zukunft von Freiheit und Demokratie, die in den gegenwärtigen Krisen immer stärker unter Druck geraten. Es ist fünf vor zwölf – die vorgesehenen Entlastungen für die Menschen müssen nicht nur angekündigt, sondern auch umgesetzt werden.“
Es könne nicht angehen, dass Energiekonzerne an Ukrainekrieg und Energiekrise verdienten, während immer mehr Menschen in Armut gedrängt würden: „Der Staat ist gefordert, diese Übergewinne durch eine Steuer abzuschöpfen und an die Bürger zurückzugeben.“
Nach den Redebeiträgen nutzten die Anwesenden die Gelegenheit zum intensiven sozialpolitischen Austausch.